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Warum ist die EU-Verfassung womöglich ein neues Ermächtigungsgesetz?



(Quelle: Neue Solidarität/Jg.32 Nr. 46 vom16.11.2005 / ISSN-0949-9989)


EU-Verfassung ein neues Ermächtigungsgesetz?

Prof. K.A. Schachtschneider sprach an der Freien Universität Berlin über
den EU-Verfassungsvertrag.

Die EU-Verfassung wäre ein neues "Ermächtigungsgesetz" - zu diesem erschütternden Schluß kommt der Staatsrechtler Prof. Karl-Albrecht Schachtschneider von der Universität Erlangen.
Ende Oktober hielt Schachtschneider, der die noch nicht entschiedene Verfassungsklage des bayerischem Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler gegen die EU-Verfassung staatsrechtlich begründete und dessen
Verfahrensbevollmächtigter ist, einen Vortrag an der Freien Universität Berlin, der zu einem leidenschaftlichen Plädoyer für republikanische Freiheit und gegen die Gefahr eines Europas der Unfreiheit geriet. Über vier Stunden referierte Schachtschneider zu seinem Thema, der Organklage gegen die EU-Verfassung.

Es braucht tatsächlich juristischen Sachverstand auf höchstem Niveau, gepaart mit einer "alt-europäischen" Bildung, wie es Schachtschneider selbst formulierte, um die hochgefährlichen Fallstricke der EU-Verfassung aufzuspüren. Schachtschneider bezeichnete es als höchst bedenklich und skandalös, daß kaum jemand unter den Rechtsprofessoren in Deutschland sich im europäischen Recht auskenne, geschweige denn dieses lehre, obwohl das europäische Recht inzwischen in unser aller Leben eingreift. Er selbst stelle fast eine Ausnahme dar - vor diesem Hintergrund konzentrierte Schachtschneider seine Fundamentalkritik an der europäischen Verfassung auf folgende zentralen Punkte:

* Die Eigenständigkeit der Bundesländer soll abgeschafft werden;

* Das Prinzip der begrenzten Ermächtigung überträgt Hoheitsrechte aufdie EU, obwohl diese kein Staat ist. Nach republikanischerStaatsrechtslehre kann aber nur ein Volk, das sich im Staat verfaßt hat, solche Hoheitsrechte ausüben;

* Das Recht zur Führung von Angriffskriegen sowie die Todesstrafe würden durch die EU-Verfassung eingeführt;

* Nach Art. 445 kann die Verfassung sowie alle Einzelgesetze auf europäischer Ebene geändert werden, sofern ein einstimmiger Beschluß des Ministerrats vorliegt. D.h. die nationalen Parlamente hätten keinen Einfluß mehr auf die Gesetzgebung - dies liefe praktisch auf ein neues Ermächtigungsgesetz hinaus!

Das Argument der Übertragung von Rechten auf das Europaparlament ließ Schachtschneider nicht gelten, da dies nun überhaupt keine "Macht" im traditionellen Sinne besitze. Bei Gesetzesvorlagen sei das Europaparlament lediglich anzuhören! Daß gewählte Abgeordnete des Bundestags so einem monströsen Verfassungswerk, das quasi die
Entmachtung der Parlamente ermöglicht, zustimmen konnten, sei in seiner Tragweite gar nicht hoch genug einzuschätzen. "Entweder haben die Parlamentarier die EU-Verfassung nicht gelesen, oder sie haben sie nicht verstanden", resümierte Schachtschneider. Die dritte Variante sei Käuflichkeit der Volksvertreter.

Dieses Problem ist nach Ansicht Schachtschneiders in allen Bereichen unserer Gesellschaft inzwischen so gravierend geworden, daß es die Freiheit der Rede und damit die Fundamente eines republikanisch und demokratisch verfassten Staatswesens bedroht. "Akademiker und Professoren, die eine angepaßte Lehrmeinung im Sinne des Neoliberalismus
und der Aufgabe staatlicher Souveränität vertreten, werden schnell mit eigenen Instituten belohnt", so Schachtschneider. Die Folge sei die "Verrottung unserer Bildung" - Studenten des Rechts und der Volkswirtschaftslehre z.B. würden nur noch Beliebigkeiten der Anwendung von Gesetzen und Verfahren lernen, aber es fehle eine klassisch-humanistische Bildungsgrundlage.

"Die EU-Verfassung sowie das Europäische Währungssystem sind ein neoliberales Projekt, aber kein Volkswirtschaftler ist mehr in der Lage, den Studenten zu erklären, was Freihandel in seiner Konsequenz bedeutet!
Das mache ich inzwischen als Staatsrechtler, weil es die anderen entweder nicht können oder nicht wollen!" Mehrmals betonte Schachtschneider, er wolle das Recht der freien Rede nutzen, solange er dies noch dürfe.

Das Fazit lautete: Mit dieser EU Verfassung soll die existentielle Staatlichkeit der europäischen Länder ausgehebelt werden - im Klartext bedeutet dies, die politische Freiheit im Sinne einer Einflußnahme auf die Gesetzgebung wird den Bürgern Europas genommen, wir werden zu Untertanen erklärt. Begonnen hat dieser Freiheitsverlust mit der gemeinsamen europäischen Währung.

Schachtschneider betonte, die heute ausgerufene "Kultur der Freiheit" - im Gegensatz zur politischen Freiheit - sei nur in Sinne der Neoliberalen eine Freiheit der Kapitalbesitzer. Gerade die ungehinderte Kapitalverkehrsfreiheit aber habe mindestens ein Drittel der wirtschaftlichen Probleme Deutschlands verursacht. Die konsequente Umsetzung des neoliberalen Paradigmas im Politischen bedeute, Demokratie durch "Effizienz" zu ersetzen. Daß dies zwangsläufig in totalitären Strukturen mündet, dafür sei die EU-Verfassung eine warnendes Beispiel.
Mit der französischen und holländischen Ablehnung haben wir die Chance der Umkehr erhalten, bevor es zu spät ist.

Frank Hahn