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Heilige
Rätsel |
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"Wenn wir der Natur als Führerin folgen, werden wir niemals abirren" - ein Wort Ciceros, das verdient gerade in unserer Zeit beachtet zu werden, die fast ganz zwischen Meinungen hängt. Heute sind Vitamine, gestern
waren es Kalorien, morgen ist es vielleicht eine andere Ansicht, die
uns sagt, was wir essen sollen. Was Kunst ist, was als
zeitgenössische Literatur zu gelten hat, das behaupten die
Zeitungen zu wissen. Wie wir uns zu kleiden haben, verraten uns
die Modehäuser. Fast jeder sieht, hört und fühlt
mit den Augen, Ohren und den Nerven eines anderen. Es ist eine
seltsame Zeit. Ihr Ausdruck ist die Masse Mensch von heute.
Trotzdem wächst die Zahl
derer immer mehr, welche das Joch fremder Meinung abschütteln und
mit Bewußtsein Wert darauf legen, sie selbst zu sein.
Das kann Sonderlingstum und Eigenbrötelei bedeuten, aber es kann auch etwas Wertvolles sein, vielleicht das Höchste, was erreichbar ist: ein wahrer, lauterer, gütiger, verläßlicher, im edelsten Sinne religiöser Mensch. (Wahre Religion = keine Konfession, sondern Rückverbindung mit der Natur, mit dem Ursprung!) Ein solcher Mensch ist immer
schöpferisch, muß es sein, weil er im engsten Weben mit der
Natur zum Sprachrohr werden muß der ewigen Intelligenz, die aus
aller reinen Natur spricht. Ein solcher Mensch fühlt in sich
die unendliche Vernunft lebendig werden. Durch ihn spricht das
"Es", jene geheimnisvolle Kraft, die jeder wahre Künstler, jeder
wahre Dichter aus den großen Stunden seiner schöpferischen
Arbeit kennt; jenes "Es", dessen Formsprache, durch den
Schöpferischen sichtbar geworden, Sinnzeichen des Künstlers
überhaupt ist. Das ist kein Denken - es ist Einfall,
Gnade. Mit tiefer Weisheit gestaltet das die Sprache, wenn sie
meint, "es" fällt uns etwas ein.
Dieses Horchen auf das Ewige
ist dem heutigen, im Geschäftsleben verstrickten Menschen fast
fremd geworden.
Der wahre Kulturmensch aber weiß um das heilige Rätsel des "Es", und willig gibt er sich ihm hin. Seine Erfahrung lehrt ihn dieses: Alles willensbetonte Streben nach irgendeinem Ziel kann wohl zu äußerem Erfolge führen, der nur ein Scheinerfolg ist, weil die Seele hungert. Der wirkliche Mensch lebt nach innen, arbeitet daran, wahr, gut, hilfsbereit, gütig, tüchtig, heiter zu sein. Denn so ist Natur. Erreicht er dieses Ziel, dann stellen sich die äußeren Erfolge in den Grenzen des Notwendigen ein, von selber ein. In seiner Weisheit hat Plato in
der Schilderung der einst versunkenen Atlantiskultur geschrieben: "Mit nüchternem Scharfblick erkannten
sie vielmehr, daß alle diese Güter nur durch gegenseitige
Liebe, vereint mit Tüchtigkeit, gedeihen, durch das eifrige
Streben nach ihnen aber zugrunde gehen, und mit ihnen auch die
Tüchtigkeit. Bei solchen Grundsätzen und der
fortdauernden Wirksamkeit der göttlichen Natur in ihnen gedieh
alles aufs beste."
Es ist bezeichnend, daß keines der vielen Lebensbücher diese Stelle aus Platos berühmtem Atlantisbericht wiedergibt. Schon der Hinweis auf die göttliche Natur im Menschen läßt die Anspruchslosen lächeln, und nur wenige fühlen das unerhört Gewaltige in des großen Griechen weisen Worten. Noch heute ist dieses
Göttliche in uns wirksam. Aber obwohl gelehrte Betrachtungen
über die Pflege des Körpers in Fülle angestellt werden -
um die Gesundheit der Seele kümmern sich wenige; um die Seele, den
göttlichen Odem in uns; um das Hellgefühl, das uns sicher
leitet; um den Gott, der in uns spricht. Mit unserem aufs
Materielle gerichteten Denken, mit unseren nur die äußere
Notdurft berührenden Sorgen übertönen wie diese Stimme,
fallen ihr ins Wort, lassen sie nicht ausreden.
".... man ließ Gott wieder einmal nicht ausreden - Gott ausreden lassen, heißt Vollkommenheit." Ist Vollkommenheit! Das eben zeigt uns die Natur. Folgen wir ihr als Führerin, wie es die Tiere tun und die grünen Geschwister unseres Heimatsterns. Hast du einmal hineingehorcht
in die stille Sprache der Natur, die dich umgab auf den Wegen, da du
Erholung suchtest?
Die unscheinbarste Blüte am Wegrain, der schlichteste Käfer, der über den Sand huscht, der ins Licht strebende Baum, jede torkelnde Hummel, jeder gaukelnde Falter sind des heiligen Rätsels voll; sind sprechende Zeichen einer höheren Führung. Wenn der Herbst bunt über
dem Lande steht und die Eichen in spätem Golde brennen,
glühen auf der Unterseite ihrer Blätter die purpurnen Gallen,
die Kinderwiegen der Gallwespenjungen. Welch ein Wunder, welch
tiefes Geheimnis beut sich uns da. Das Galläpfelchen, von
der Eiche gebildet, ist nicht irgendein Auswuchs nur, erzeugt durch den
Stich der Wespe, sondern hier tritt ein vorausschauender Sinn, eine
vorausschauende Anpassung vor uns. Auf der Innenfläche der
Galle bildet die Pflanze nämlich große, stärkereiche
Zellen, von denen die ausschlüpfende Larve lebt. Und gerade
jetzt im Herbst verpuppt sich die Larve. Müde fällt das
Blatt zur Erde. Hier in Schnee und Feuchtigkeit würde das
Tierchen verkommen müssen, wäre nicht inzwischen die
Gallenhaut verholzt. Eine undurchbrechbare Mauer hat sich um das
junge Lebewesen gebildet; es ist in einem Gefängnis
eingeschlossen. Wer öffnet es ihm?
Heiliges Rätsel der Natur: ein schmaler Streifen ist unverholzt geblieben! An dieser Stelle tut sich im Frühling das Tor der Freiheit auf. "Es" hat alles wundersam gefüget. Und wenn um die gleiche Eiche
in Sommernächten die brummenden Hirschkäfer schwirren,
spricht wieder für den Feinhörigen das große Geheimnis
eindringlich und leise.
Kennt ihr den Lebensweg dieses königlichen Käfers? Ist das nicht merkwürdig? Das sind zwei walzenförmige, mehr als zehn Zentimeter lange Larven. Beide gleichgroß. Der Zoologe belehrt uns, es handle sich um die Vorstufen des Hirschkäfers. Nun verpuppen sie sich. Und siehe, die eine Puppe ist wesentlich größer als die andere. Das ist auffallend! Jetzt kriechen die Käfer aus ihren Hüllen. Aus der kleinen ein Weibchen; aus der großen ein Männchen, dessen Kopf mit geweihartigen Zangen geschmückt ist. Um die Länge der Zangen übertrifft es das Weibchen. Wie seltsam! Beide Larven waren gleichgroß, und gleichgroß müßten ihre Puppen sein. Das Männchen aber baut eine größere Hülle. Das ist überraschend! Denn die Verpuppung findet im Leben des Käfers nur einmal statt. Der Larve fehlt also die eigene Erfahrung ihrer kommenden Gestalt. Und doch handelt sie so, als wüßte sie um ihre Vergrößerung oder ahnte sie; ahnte ihr späteres unbekanntes Dasein. Das erschüttert! Gewiß ist es eine Notwendigkeit, welche die Larve derart handeln läßt. Man nennt das Instinkt. Aber damit ist niemanden geholfen. Und es wäre zwecklos, nach einer Erklärung zu suchen. Nur am Vergleich vermögen wir das Wesentliche dieses Rätsels zu erfassen. Und wenn wir uns zum Menschen
zurückwenden, haben wir nicht oft und oft empfunden, wie richtig
wir handeln, wenn wir der inneren Stimme folgen, ohne zu wissen,
warum? Und haben wir nicht erfahren, daß es ist, als ob wir
auf das Gewissen hörten, jene feine Waage beachteten, auf der Gut
und Böse gewogen werden? Und erlebten wir es nicht,
daß das Gute immer zusammenfiel mit dem Natürlichen, und
daß alles Unnatürliche sich immer mit dem Bösen deckte?
Und war Harmonie nicht immer Folge des Guten? Damit aber langen wir in das Ewige, in die Bewußtheit hinein, die eine Glücksstimmung erfährt, wenn wir das Gute tun. Was wir aber im Hause des
Körpers als natürlich, als harmonisch, als gut empfinden, das
kann in der körperlosen Ebene des Geistigen, in der ewigen Ebene,
in die wir nach dem Tode hineintreten, nicht unnatürlich sein;
denn der Körper ist Ausdruck, ist Siegel, ist Gestaltung des
Geistigen.
Aber das Gewissen, das heilige Rätsel, das göttliche "Es" ist es, das auch uns zwingt, an unserem Puppengewebe zu spinnen für ein unbekanntes späteres Dasein. Wer seinem Gewissen lauscht, wer ihm folgt, handelt wie die Hirschkäferlarve, die aus einem dunklen Drange das einzig Richtige, das Notwendige, das Natürliche tut für ein späteres Leben. Warum vergaßen wir
das? Sind wir blind geworden? Warum haben wir die
gütige Hand Gottes von uns gewiesen? Warum stolpern wir in
einer Welt, voll von Schönheit und köstlichen Aufgaben, als
irrende Bettler umher? Lassen wir Natur wieder unsere Mutter
sein. Lauschen wir ihrer Stimme. Und durch das warme Licht
eines kommenden Tages werden wieder Menschen schreiten, die mit
nüchternem Scharfblick erkennen, daß alle greifbaren
Güter nur erworben werden können durch gegenseitige Liebe,
vereint mit Tüchtigkeit. Menschen, die wissen, daß nur
so auch ihre Seele sich entfaltet, gut und hilfreich und edel.
Hanns Fischer (Quelle: "Das Antlitz der Stunde - ein erlebtes Brevier" von Hanns Fischer, S. 29-34, Jahrg. 1936, Verlag Dr. Hermann Eschenhagen-Breslau) |
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